„Pflegekräfte hätten die Macht,
alles zu verändern.“

6. Mai 2020 | Autor: Christoph Lixenfeld

Corona bringe es ans Licht: „Frauen sind viel weniger weit, als wir gedacht haben“, schrieb Julia Jäkel, CEO von Gruner + Jahr, auf LinkedIn. Das stimmt. Richtig ist aber auch: In der Pflege könnten auch die Frauen selbst mehr tun als bisher, um voranzukommen.

© Frank Siemers

Teilen

Anfang Mai beklagte die Süddeutsche, dass Pflegekräfte zwar viel Applaus, aber wenig Geld bekommen. Und sie nannte auch den wichtigsten Grund der Misere: Ähnlich wie VerkäuferInnen sind PflegerInnen – in beiden Jobs arbeiten fast ausschließlich Frauen – kaum gewerkschaftlich organisiert. Lediglich fünf Prozent aller Altenpflegerinnen in Deutschland sind Mitglied der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Entsprechend klein ist ihre Macht, wenn es darum geht, höhere Löhne durchzusetzen. Viele, die in diesem Job arbeiten, kümmerten sich zwar gern um andere, vergäßen dabei aber oft sich selbst, konstatierte die Süddeutsche .
Diese Selbstvergessenheit wird von den privaten Pflegearbeitgebern seit Jahren konsequent ausgenutzt, um ihren Angestellten einheitliche, angemessene Löhne zu verweigern. Die Pflegenden hätten durch eine „Abstimmung mit den Füßen und ihre Nichtmitgliedschaft in den Gewerkschaften“ längst deutlich gemacht, „dass sie keine Tarifrituale und staatlichen Lohndiktate wollen“, so Rainer Brüderle, Präsident des bpa-Arbeitgeberverbands im Juni 2019.

Kontrolleure interessieren sich nicht für die Pflegekräfte

Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister behauptet also nichts weniger, als dass Pflegekräfte der Gewerkschaft fernbleiben, um zu verhindern, dass sie bundesweit einheitliche – und am Ende höhere – Löhne bekommen.
Dieser zynischen Argumentation würde sich Armin Rieger natürlich nicht anschließen. Aber auch er ist der Ansicht, dass Pflegekräfte mitverantwortlich sind für Verhältnisse in der Branche. Rieger war achtzehn Jahre lang Geschäftsführer eines Pflegeheims in Augsburg. 2014 legte er gegen die unhaltbaren Zustände in deutschen Heimen Verfassungsbeschwerde ein.
Für mein aktuelles Buch habe ich ihn zu diesem Thema interviewt. Seiner Erfahrung nach haben viele Pflegekräfte „ein Helfersyndrom, opfern sich auf, erledigen in fast schon masochistischer Demut ihre Arbeit bis zur Belastungsgrenze – und darüber hinaus.“ Die unzähligen Überstunden, die viele angesammelt hätten, fielen auch bei Kontrollen nicht auf, „weil sich die Kontrolleure nicht dafür interessieren.“

Sie hätten am nächsten Tag einen neuen Job

Anstatt darauf – und auf andere Missstände – hinzuweisen, so Rieger, hülfen Pflegekräfte häufig noch dabei, Dienstpläne zu fälschen, stützten damit das ausbeuterische System.
Dabei hätten sie die Macht, die Verhältnisse in der Pflege radikal zu verändern, wenn sie wirklich wollten, davon ist Rieger überzeugt. „Das fängt schon mit einfachen Dingen an. Wer hundert oder mehr Überstunden angesammelt hat, sollte nicht mehr ans Telefon gehen, wenn die Wohnbereichsleitung am Wochenende anruft. Und wenn der Druck dann nicht nachlässt, kündigen.“
Die Betreffenden hätten in der Branche am nächsten Tag einen neuen Job.
Armin Rieger hat diese und viele weitere Erfahrungen, die er in der Pflege gesammelt hat, 2017 in seinem Buch „Der Pflege-Aufstand“ verarbeitet.
Viele werden an dieser Stelle vermutlich denken, dass die beschriebene Macht, Dinge zu verändern, in Zeiten von Corona kaum noch vorhanden sein dürfte. Weil die Hälfte der KollegInnen im Heim längst krankgeschrieben sind und der Betrieb ja – gerade jetzt – irgendwie weitergehen muss.

Wann, wenn nicht jetzt?

Andererseits betonen die Medien seit Wochen hoch und runter, jetzt werde endlich sichtbar, wer in diesem Land „systemrelevant“ ist und wer nicht. Filmproduzenten, Unternehmensberater und Versicherungsvertreter sind es sicher nicht. Sie könnte man – wie im legendären Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ geschehen – vermutlich auch in den Weltraum schießen, ihr Fehlen würde monatelang niemandem auffallen.
Bei AltenpflegerInnen und VerkäuferInnen sieht die Sache ganz anders aus. Deshalb lautet die Antwort auf die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für eine systematische Gegenwehr: Wann, wenn nicht jetzt? Weil das Elend in Deutschlands Altenhilfe – auch das, an dem nicht das Virus Schuld ist – sichtbarer wird denn je. Weil die Politik jetzt zumindest ein offenes Ohr hat. Weil es den Arbeitgebern jetzt schwerer fallen würde denn je, sich Forderungen nach mehr Lohn und besseren Arbeitsbedingungen zu widersetzen.
Damit zu warten, bis die Krise vorbei ist, aus „Rücksicht“ auf die Bewohner oder auf wen auch immer, wäre deshalb ein schwerer Fehler.
Das gilt übrigens auch für die Politik: Wenn sie an den Verhältnissen etwas ändern möchte, dann sollte sie die Gelegenheit beim Schopf ergreifen. Denn wegen Corona rufen jetzt – wie fast alle anderen – auch die Pflegearbeitgeber nach staatlichen Hilfen, Entlastungen etc. pp. In einer idealen Welt könnte man ihnen als Gegenleistung für irgendwelche Zahlungen bundesweit einheitliche Tarife für ihre Angestellten abverlangen.

2021 finden sieben Wahlen statt

Doch das würde einiges Kosten, und zwar nicht nur auf Seiten der Unternehmen, sondern auch auf denen der Beitrags- und Steuerzahler. Und die Politik müsste den Menschen endlich ehrlich sagen, dass die Altenhilfe in unserem Land uns alle in Zukunft deutlich mehr kosten wird als in der Vergangenheit. Ob die Verantwortlichen den Mut dazu haben, bezweifle ich. Im Jahre 2021 finden in Deutschland eine Bundestagswahl, sechs Landtagswahlen und zwei Kommunalwahlen statt…

Teilen